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Ricardo Gehn
Ricardo Gehn

Learn Programming, Now! – Wie Programmieren meine Weltsicht verändert hat

Gastbeitrag von Ricardo Gehn, der seit 2013 Softwarelösungen für Performances und Installationen entwickelt, die das Spannungsverhältnis zwischen theatralen Formen und Digitalität ausloten. Außerdem ist er Gründungsmitglied und Softwaredeveloper der Kollektive moon facilitator und OutOfTheBox, mit welchen er u.a. softwarebasierte und ortsspezifische Performances im öffentlichen Raum erarbeitet.


Das digitale Zeitalter prägt vor allem eines: Unsere Unwissenheit darüber, was da eigentlich abgeht. Nicht selten schalten viele bereits beim Begriff Algorithmus auf Durchzug oder glauben, es würde sich um eine Art Zauber handeln, der aus den Weiten des Silicon Valleys zu uns gekommen ist.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir die tatsächlichen Prozesse hinter unserer Lieblingssocialmediapp nicht durchschauen, wenn wir ein Stück Software benutzen oder ein Algorithmus uns nutzt. Dennoch beschäftigen wir uns permanent mit unserem Smartphone und wissen zugleich vielleicht noch nicht einmal, dass die Straße, die wir gerade dabei passieren, von einem Algorithmus berechnet wurde, dessen Produzenten vor allem das Wohl des nahe gelegenen Einzelhandels im Auge hatten.

Software schafft Realitäten

Diese Unwissenheit und zugleich die Faszination für die digitalen Güter und Dienstleistungen führt zu einer mangelnden Auseinandersetzung mit diesem Feld, auch wenn es uns so langsam dämmert, dass wir wohl etwas verpassen würden, wenn wir dies nicht tun.

Natürlich ist es angesichts dieser Problematik leicht, sich kritisch gegen Soziale Medien oder manipulative Software auszusprechen oder zum/r Aussteiger*in zu werden und dem ganzen Hokuspokus einfach den Rücken zuzuwenden. Jedoch können die meisten von uns nur davon träumen, eine kritisch-praktische Perspektive einzunehmen und z.B. [tweetshareinline tweet=“alternative Software zu schaffen, die andere Prämissen setzt, als Gewinn und Wachstum“ username=“KulturData“], die z.B. sozialen oder ästhetischen Grundlagen folgt.

Denn eins müssen wir uns klar machen: Software und Algorithmen schaffen Realitäten. Sie sind keine abstrakten, magischen Entitäten. Sie sind die digitalen Ausformulierungen von Unternehmensanliegen und Zielen. Derzeit überlassen wir es nur sehr Wenigen, Anliegen formulieren zu können. Damit geben wir diesen unheimlich viel Macht.

Vom angehenden Schriftsteller zum Programmierer

Meine Auseinandersetzung begann mit dem Lernen von Programmieren. Dieser Prozess fing mitten in meinem Studium zum Kreativen Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim an. Ich hatte mich beworben, um in meiner schriftstellerischen Tätigkeit voran zu kommen und war fest entschlossen, mit Literatur mein künstlerisches Leben zu verbringen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich vor allem Konsument, so wie die meisten wahrscheinlich. In mehreren Seminaren gab es bereits Berührungspunkte mit Programmieren oder mit der Idee dessen, dass es wohl gut wäre, Programmieren zu können. Ein Programmierkurs war jedoch nicht in der Studienordnung inbegriffen. Natürlich gab es bis zu diesem Zeitpunkt schon längst Kulturschaffende, die in meinem Umfeld mit selbsterzeugter Software Kunst machten. Zum Beispiel das Kollektiv Machina eX. Doch bei mir hatte es bis zu diesem Tag noch nicht ganz Klick gemacht. Trotzdem ertappte ich mich eines Abend dabei, wie ich mir ein Arduino Starter Kit besorgte.

Wer es noch nicht kennt: ein Arduino ist ein kleiner Mikrocontroller, den man programmieren kann. Bereits ein paar Tage später konnte ich mit nur ein paar Zeilen Code eine kleine LED-Lampe zum Blinken bringen. Das scheint natürlich noch nicht wirklich der Entwicklung von eigener Software nahe zu sein, aber für mich waren es die ersten Schritte. Jede Zeile Code schob den Schatten der Unwissenheit weiter zurück: Programmieren ist keine geheimnisvolle Sache. Dazu braucht es nur ein wenig Logik und Mathefähigkeiten aus der Schule. Man muss auch nicht unbedingt einen Kurs an der Uni belegen, um es zu lernen, denn das Internet hält so viel Material bereit, dass es eher eine Kunst ist, den Anfang zu finden.

Der Einstieg war geschafft

Über das Arduino kam ich zu der Processing Umgebung, die vor allem für Visuelle Künstler*Innen interessant ist, von Processing zu Python und von Python zu Java, gleichzeitig brachte ich mir noch HTML, PHP, Javascript und SQL bei.

[Anmerkung der Redaktion: Falls du bei diesen ganzen Abkürzungen nur die Fantastischen Vier mit MfG im Hinterkopf hörst, hilft dir dieser Beitrag weiter: Programmmieren von 0 bis 1 – ein Erlebnisbericht]

Ich nahm alles mit, was mich interessierte. Für mich öffente sich eine neue Welt. In nur kurzer Zeit war ich so von dem Gedanken eingenommen, Programmieren zu lernen, dass es einen Großteil meines Tages einnahm.

Der berühmte lange Atem

Was ich schnell begriff war, dass Softwareentwicklung es vor allem eine Frage der Dauer ist. Sobald man einmal eine Sprache beherrscht und sich mit grundlegenden Konzepten von Programmieren auseinandergesetzt hat, ist das Lernen einer neuen Programmiersprache deutlich unaufwendiger. Erfahrungen zu sammeln, unterschiedliche Technologien wie Apps oder Webapps kennen zu lernen und dann vor allem Softwaresysteme entwickeln zu lernen, dafür benötigt man jedoch schon einen langen Atem und viele Stunden Auseinandersetzung, Reflexion und auch evaluiertes Scheitern.

Im Nachhinein waren es nicht die Tutorials auf YouTube, die mir eine Sprache vermittelten, sondern vor allem die Inhalte, die sich mit Softwaresystemen und Architekturen beschäftigten. Beispielsweise das »Gang of Four Book«(GoF Buch) oder das Lernen von »Test-driven development« (TDD), was mich dauerhaft voran brachte. Und das nicht nur im Erarbeiten von Software, sondern vor allem auch auf künstlerischer Basis.

Kunst und Softwareentwicklung?

Diese Inhalte beschäftigen sich nicht nur mit konkreten Umsetzungen, sondern vermitteln auch eine abstrakte Vorstellung davon, wie Software als Systeme von Funktionen entwickelt werden. Beim Bearbeiten dieser Inhalte kann man dann auch schon mal ins Philosophieren kommen. Wenn man sich an diesem Punkt befindet, verändert sich auch stark das Denken über Software und zugleich das Denken über Repräsentation von Realität und Prozessen, die in dieser stattfindet (Diesen Spaß will jedoch niemandem nehmen.)

Ein Tipp: nicht direkt mit dem GoF Buch beginnen, sondern erst mit den heuristischen Prinzipien von objektorientierter Programmierung auseinandersetzen. Anschließend diese Inhalte auf Möglichkeiten untersuchen, wie sie die Welt beschreiben bzw. hervorzubringen.

Üben, Üben, Üben! – Tief durchatmen!

Das tatsächliche Entwickeln von Software darf man bei all dem was es zu lernen gibt jedoch nicht vergessen. Deshalb war es mir immer wichtig, das Erlernte mit praktischer Umsetzung zu verbinden. Also entwickelte ich z.B mit der Performancegruppe moonfacilitator eine androidbasierte SMS-App im Rahmen der Nachtschicht bei Transeuropa2015 in Hildesheim, die mehrere hundert Leute interaktiv durch die Nacht begleitete.

[Video gibt’s hier.]

Heute, 5 Jahre nachdem ich mir das Arduino Starterkit besorgt hatte, habe ich das Gefühl von mir behaupten zu können, wirklich Softwaresystem entwickeln zu können (nicht nur auf der Basis von Copy&Paste oder nach der Taktik “Einfach-Drauf-Los”).

5 Jahre später – Programmieren für Kulturschaffende. Ein Beruf?

Mittlerweile ist es nicht nur einfach eine Leidenschaft, sondern vor allem ein Beruf und ein inhaltlicher Schwerpunkt meiner Arbeiten geworden. Dazwischen gab es natürlich unheimlich viele Erfahrungen und Projekte, die ich erleben durfte. Nach vielem Probieren und Lernen habe ich mich vor allem auf Webapps und Androidapps spezialisiert, die ich für verschiedene Projekte einsetze und für Kulturschaffende entwickle.

Zugleich berate ich Kulturschaffende, wenn es um die Umsetzung von digitalen oder algorithmischen Strategien in ihrer Arbeit geht. Wie ich nämlich feststelle, gibt es mittlerweile viele Kulturschaffende, die sich vermehrt mit Software und Algorithmen auseinandersetzen wollen, die jedoch auf verschiedene Komplikationen treffen. Oder einfach nicht wissen, wo sie anfangen sollen.

Der beste ineffiziente Algorithmus – LostInAlgorithm

In meiner eigenen künstlerischen Auseinandersetzung bearbeite ich derzeit mit Susanne Schuster [Anmk. d. Red. auch sie hat einen Gastbeitrag verfasst] im Kollektiv “OutOfTheBox” das Thema Algorithmen. Dazu entwickeln wir gerade eine Webapp und eine Onlineplattform, welche den besten ineffizienten Algorithmus erzeugen soll. Die Webapp und auch die Plattform wird dann im Sommer 2018 in einer Performance mit dem Titel “LostInAlgorithm” zur Aufführung gebracht.

Software setzt Impulse

Jemandem der jetzt denkt: »5 Jahre ist aber eine lange Zeit«, möchte ich sagen, dass Softwareentwicklung ein permanenter Lernprozess ist. Niemand ist jemals damit fertig: es gibt immer wieder neue Technologien und Softwarekonzepte. Jedes Projekt, das eine eigene Software integriert, gibt einem neue Denk- und Lösungsaufgaben. Jedes Projekt erweitert das Verständnis davon, wie Software erzeugt wird. Aber vor allem ist es wichtig, dass jedes Projekt mit eigener Software eine Möglichkeit bietet, eigene ästhetische oder politische Impulse mit Hilfe von Software zu setzen. Impulse, die unsere Auseinandersetzung erweitern kann.


Anmerkung der Redaktion:

Kulturveranstaltungen, die durch Programmierungen ermöglicht werden oder das Thema behandeln gibt es noch nicht sehr viele. KulturData will diese daher als zentrale Plattform sammeln. Schick deine Veranstaltungen einfach an info[ät]kulturdata.de