Warum fremdeln Kulturorganisationen mit der Digitalisierung?

Orchester, Theater, Museen und viele weitere Kulturorganisationen stellen sich seit Jahren (manche erst seit Tagen) die Frage, inwiefern sie durch die Digitalisierung einen Wandel erfahren und wie sie diesen gestalten können.

Ich werde in diesem Text 5 Argumente anbringen, die zumindest einen Teil der Frage beantworten, weshalb so viele Kulturorganisationen mit der „digitalen Revolution“ bis heute fremdeln.

1. Märkte treiben Innovationen

Organisationen treiben ihre Digitalisierungsprojekte nicht voran, um zu digitalisieren, sondern um den (neuen) Anforderungen ihrer Kund*Innen gerecht zu werden.

Wer mit einer mechanischen Lösung, wie einem Haustürschlüssel, zufrieden ist, wird nicht auf ein digitales Smart-Home umsteigen – nur, weil es eben möglich ist. Die Innovationen der „Schlüsselbranche“ können noch so technisch beeindrucken: Wenn Kund*Innen keinen klaren Vorteil darin sehen, ihr bewährtes System gegen ein Neues auszutauschen, werden auch Schlüsselfirmen ihre Digitalisierungsprojekte nur „nebenher mitlaufen lassen“. Erst, wenn der Markt entscheidet, dass eine Innovation einen Mehrwert bietet, entsteht auch eine Nachfrage nach technischer Innovation.

Das Publikum („der Markt“) von Kulturorganisationen der Hochkultur (wie Theaterhäuser, Opernhäuser, Orchester und Museen) ist >60 Jahre alt, technisch abgehängt („Und wie lade ich diese ‚App‘ herunter?“) und interessiert sich – wie man jedes Jahr in der Werkstatistik des Bühnenvereines nachlesen kann – für die Klassiker unter den klassischen Werke.

Ein solches Publikum is weder „Early Adopter“ neuer Technikformate noch (im Vergleich zu jüngeren Segmenten) an neuen Medienformaten interessiert. Natürlich gibt es Ausnahmen und diese äußern sich echauffiert über eine solche Darstellung. Doch der weitaus größte Teil des Hochkulturpublikums lässt sich so beschreiben.

Ein solches Publikum fordert keine Innovationen ein – es straft sie ab.

2. Keine Gelder fürs Grobe

Getreu der Catchphrase „Follow The Money“ aus dem Film „All the President’s Men“ (1976) betrachten wir nun die Finanzströme der Hochkulturorganisationen:

Bekanntlich ist der durch das Publikum über Ticketverkäufe generierte Anteil an der Gesamtfinanzierung eher klein. Selbst wenn das Publikum ausbleibende Innovationen mit Desinteresse abstrafen würde, wären die Ausmaße auf die Existenz der Kulturorganisation – vor allem im Vergleich zu privatwirtschaftlichen Unternehmen – irrelevant.

[Das führt zu einer großen künstlerischen Freiheit und auf diesem Blog kann man nachlesen, dass ich das natürlich sehr schätze. Ich betrachte es jedoch nicht als frei von jedweden Nachteilen.]

Die Finanzierung wackelt also erst, wenn der öffentliche Träger seine Unterstützung infrage stellt. Der Träger könnte also die Rolle des Marktes übernehmen und als treibende Kraft der Digitalisierung agieren.

Fordert dieser nun die Digitalisierung ein? Nein. Betrachtet man die Förderprojekte zur Digitalisierung, so steht die Kulturvermittlung im Vordergrund. Es wurde sich also ein Teilgebiet der Aufgaben eines Kulturbetriebes ausgepickt, statt eine Digitalisierung des Kernes, der Grundstruktur, NACHHALTIG voranzubringen.

Doch nicht nur die fehlenden Einforderungen von Innovationen sind ein Problem, sondern auch die fehlenden Anreize, die normalerweise zu Digitalisierungsprojekten führen.

[Nebenargument, das leider immer stimmt: Es ist generell zu wenig Geld für alles da. Stellenbeschreibungen, die jemanden suchen, der alles kann und nix verlangt. Überstunden für Lau und befristete Arbeitsverträge, die keinerlei Sicherheiten geben („Kündigung aufgrund künstlerischer Gründe“) – ihr wisst schon.]

3. Fehlende Anreize

Digitalisierung wird in der freien Wirtschaft meist als Möglichkeit betrachtet, Umsätze zu steigern oder Kosten zu senken. Shareholder möchten die Kosten senken, damit der Gewinn bzw. die Dividende eines Unternehmens steigt (Steuerthematik mal ausgenommen).

Im Unternehmen werden also Anreize gesetzt, um den Gewinn zu steigern. Und wenn Digitalisierung als ein mögliches Werkzeug für dieses Ziel erkannt wurde, wird sie auch voran gebracht.

Öffentliche Kulturorganisationen dürfen jedoch keine Gewinne erwirtschaften. Sinkende Kosten oder steigende Umsätze führen also nur dazu, dass der öffentliche Träger die entstehenden Verluste mit geringeren Beträgen bezuschussen muss. Wer in einer Kulturorganisation sollte darin einen Anreiz sehen, um zu digitalisieren? Niemand.

4. Erfolge werden flügge

Sobald eine Kunstform Anknüpfungspunkte mit digitalen Technologien oder Themen findet, entsteht eine neue – von der Ausgangsform herausgetrennte – Kunstform. Zum Beispiel hat die Medienrevolution als neue Kunstform Fernsehfilme und Kinofilme entstehen lassen. Aber diese haben sich vom Theater herausgelöst.

Das Theater hat also keine relevanten Innovationen aus dieser Revolution gezogen. (Abgesehen von einer inhaltlich-künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Themen). Denn anders als z.B. die Firma „Nintendo“ ihr Hauptprodukt „Kartenspiele“ elektrifizierte und so Videospiele kreierte, wurden die Kartenspiele nicht archivarisch beibehalten, sondern ausgetauscht. Der Kern hatte sich gewandelt, wie er es später auch bei der Digitalisierung getan hat (digitale Spiele).

Kulturorganisationen dürfen aber ihren Kern (Orchestermusik, Van Gogh Gemälde etc.) niemals aus dem Fenster werfen, sobald sie eine neue, digitale Ausdrucksform gefunden haben. Sie müssen diese entweder parallel voranbringen, oder die neue Form kapselt sich von der alten Heimat ab und entwickelt ein Eigenleben. Sie wird flügge.

5. Interna und Legacy

Jede Organisation ist anders. Und gerade Kulturorganisationen sind meistens größere Tanker, als man es als Zuschauer*In erwarten würde. Und jeder, der mal in einer Organisation mit anderen Menschen zusammengearbeitet hat, weiß, dass man „nicht auf einem weissen Blatt Papier beginnt“ (Julian Nida-Rümelin?) und gute Konzepte an internen Strukturen oder einer starren „Legacy“ (z.B. organisch gewachsene IT-Infrastruktur, die man nicht so leicht ändern kann) scheitern.

Daher steht dieses Argument auch stellvertretend für das „unbekannte Unbekannte“ (Nassim Nicholas Taleb), dass ich als Externer nicht genauer beschreiben kann: Es könnte der Vorgesetzte sein, der nur noch auf den Ruhestand wartet, oder der Kollege, der seine Fachkompetenz durch die Digitalisierung gefährdet sieht und daher heimlich dagegen ankämpft. All das sind Stolperfallen, an denen die Digitalisierung einer Kulturorganisation scheitern kann.

tl;dr

Es wird häufig bemängelt, dass Kulturorganisationen die Digitalisierung verschlafen haben. Dann wird mit Buzzwords wie VR, AR, AI und Social Media um sich geworfen, um zu zeigen, dass der Wandel doch ganz einfach sei – man ihn einfach nur „machen“ müsse. Die Realität ist jedoch komplexer. Diese Komplexität muss jedem bewusst sein, der sich auf den Weg macht, sie auf sich zu nehmen. Sonst scheitert man bereits am Eingang.

Beratung zur Digitalisierung

Gerne helfe ich dir dabei, den Buzzwords zu entkommen und konkrete Digitalisierung zu schaffen.


Wichtiger Hinweis: Tina Lorenz vom Staatstheater Augsburg hat eine kritische Replik auf diesen Beitrag verfasst. Leseempfehlung!


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